Ist Judo in der realistischen Selbstverteidigung sinnvoll anzuwenden ?
(von Marco Cammarata)
Die Antwort vorweg, definitiv ja!
So haben doch die Techniken des heutigen Judo ihren Ursprung in der Kampfkunst der alten Samurai, dem Ju-Jutsu. Die Samurai mussten sich auch bei Verlust ihrer Waffen verteidigen können. Also kann man sagen, dass das alte Ju-Jutsu zur damaligen Zeit nicht nur “Kunst”, sondern realistische Selbstverteidigung war. Es war Jigoro Kano, der in den 1880er Jahren aus den alten Ju-Jutsu Stilen das Kodokan-Judo entwickelte. Nicht nur die Fähigkeit, einen Gegner besiegen zu können, sondern auch die Entwicklung von Körper und Geist, sowie die Persönlichkeitsentwicklung sah Kano durch sein System im erheblichen Maß gefördert. Deswegen ersetzte er wohl auch bei der Namensgebung für sein System die Silbe “Kunst-jutsu” durch die Silbe “Weg-do”. Er machte aus seinem System eine Wettkampffähige, international äußerst erfolgreiche Kampfsportart. Um dies zu erreichen war eine sehr umfangreiche Reglementierung erforderlich. Nur dadurch war und ist es den Judokas möglich, sich sportlich, mit überschaubarem Verletzungsrisiko im Wettkampf zu messen. Auch war es erforderlich zu definieren, wann eine ausgeführte Wurftechnik zum Erfolg führt, oder nur als Teilerfolg-, oder gar nicht gewertet wird. Eine Wurftechnik wird kampfentscheidend gewertet, wenn der Gegner als Folge dieser Technik zum großen Teil auf dem Rücken landet. Die Technik muss mit Kraft und Schnelligkeit ausgeführt, und der Fall des Gegners kontrolliert sein.
Eine weitere Möglichkeit zum Sieg zu gelangen, ist es den Gegner mittels einer Haltetechnik für 25 Sekunden mit dem Rücken auf der Matte zu halten. Es ist dem Gehaltenen erlaubt zu versuchen sich regelgerecht zu befreien. Verboten ist beispielsweise das ziehen an den Haaren, greifen ins Gesicht, Fingerstich in die Augen, schlagen, treten, beißen.
Nun gibt es noch die Möglichkeit den Gegner zur Aufgabe zu zwingen. Dies kann durch das ausführen einer Hebeltechnik, welche auf eines der Ellbogengelenke des Gegners wirken muss, oder durch das ausführen einer Würgetechnik, welche auf eine oder beide Halsschlagadern des Gegners wirken muss, geschehen.
SPORTLICHES VERHALTEN UND FAIRNESS SPIELEN IM JUDO EINE SEHR GROSSE ROLLE.
In der realistischen Selbstverteidigung gibt es für den Angreifer keinerlei Regeln.
Glücklicher Weise gilt dies auch für den Verteidiger. Allerdings muss sich dieser an die gesetzlichen Bestimmungen, welche bei uns durch den Notwehrparagraphen definiert
sind, halten.
Die Wurftechniken
Jeder Judoka weiß aus der Erfahrung aus zahlreichen Randori’s und Wettkämpfen, dass lange nicht jeder Wurfansatz auch zum Erfolg führt. Dies stellt in der realistischen Selbstverteidigung ein Problem dar. Um den Gegner werfen zu können, muss man die Distanz zu ihm überbrücken und engen Körperkontakt suchen. Misslingt nun der Wurfansatz und hat man versucht eine Eindrehtechnik, etwa O-goshi, Koshi-guruma, Seio-nage oder Tai-otoshi zu werfen, steht man nun sehr nah, mit dem Rücken zum Gegner. Man muss also einen sicheren Weg finden um seine Technik durchzusetzen. So kann man beispielsweise vor dem Wurfansatz Atemi Techniken anwenden, um den Gegner zu destabilisieren oder zu desorientieren. Auch ist es möglich das gleichgewichtbrechen und die Wurfvorbereitung mit Hilfe von Atemi Techniken durchzuführen.
Unter Atemi Techniken versteht man beispielsweise Schlag-, Stoß-, Stich- und Tritttechnicken, welche empfindliche Körperteile wie Augen, Nase, Oberlippe, Unterkiefer, Hals, Kehlkopf, Drosselgrube, Solar-plexus, Unterleib, sämtliche Gelenke usw. zum Ziel haben.
Weiterhin ist es möglich die Wurftechnik unter Zuhilfenahme verschiedener Hebeltechniken durchzusetzen. Die Auswahl der Wurftechnik ist sowohl praktisch als auch taktisch von großer Bedeutung. Das Kodokan-Judo kennt 67 offiziell benannte Wurftechniken. Nicht jede dieser Techniken ist gleichermaßen für die realistische Selbstverteidigung geeignet.
Viele Wurftechniken aus der Gruppe “Ashi-waza”, Fuß- Beintechniken, sind geradezu prädestiniert für die Selbstverteidigung. Sie sind relativ simpel und leicht zu erlernen. Zudem ist das Risiko bei nichtgelingen in ungünstiger Position zum Gegner zu stehen gering. Zu diesen Wurftechniken zählen beispielsweise O-soto-gari, O-uchi-gari, De-ashi-barai, oder auch Kata-ashi-dori. Aber auch viele Wurftechniken der Gruppen “Koshi-waza”, Hüfttechniken, und “Te-waza”, Handtechniken, welche zumeist Eindrehtechniken sind, eignen sich für die Selbstverteidigung. Zwar sind diese oft komplexer und schwieriger zu erlernen, jedoch bei Beherrschung und geeigneter Wurfvorbereitung sehr effektiv. Zu diesen Wurftechniken zählen beispielsweise Harai-goshi oder Seoi-nage. Was jetzt noch fehlt sind die Wurftechniken der Gruppe “Sutemi-waza”, die Opferwürfe. Sie werden in der Selbstverteidigung oft auch kritisch gesehen, weil man ja seinen eigenen Stand aufgibt, um mit Hilfe des eigenen Körpergewichtes seinen Gegner zu Werfen. Zudem befindet man sich nach der Wurfausführung selbst in der Bodenlage und man kann darüber diskutieren, was nun wäre wenn ein zweiter Gegner dazu kommen würde.
Ich jedoch denke, dass unter Berücksichtigung der Situation und Beherrschung der Technik und entsprechender Wurfvorbereitung, diese Wurftechniken ihren Platz in der Selbstverteidigung haben. Zu diesen Wurftechniken zählen beispielsweise Tani-Otoshi, Sumi-gaeshi oder Ko-uchi-maki-komi. Bei der Auswahl der Wurftechnik gilt es zu bedenken, dass es die Einteilung in Gewichtsklassen im Judo nicht grundlos gibt. Durch sie wird die Chancengleichheit hergestellt. Eine Person mit einem Körpergewicht in Höhe von 50Kg sollte nicht versuchen, einen Gegner, der gut und gerne das Doppelte wiegt, mit einer Technik wie zum Beispiel Te-guruma zu werfen. Man sollte die Techniken so üben, dass man sie, ohne dass der Gegner die für das Judo unentbehrliche Jacke an hat, durchführen kann.
Wie Anfangs erwähnt wird im Judo eine Wurftechnik kampfentscheidend gewertet wenn der Gegner als Folge dieser Technik zum großen Teil auf dem Rücken landet.
In der realistischen Selbstverteidigung spielt es nur eine untergeordnete Rolle, in welcher Position der Gegner nach dem Wurf zum liegen kommt.
Die Haltetechniken
Die Haltetechniken des Judo sind in der Selbstverteidigung oft wirkungslos. Sie funktionieren im Judo-Wettkampf weil sich beide Kämpfer an die Regeln halten müssen. In einer Selbstverteidigungssituation gibt es für den Angreifer jedoch keine Regeln. Er wird um jeden Preis versuchen den Griff zu lösen. Er wird an den Haaren ziehen, in die Augen stechen, schlagen, treten, kratzen und beißen. Im Judo gilt eine Haltetechnik nur als solche, wenn der Gegner mit dem Rücken auf der Matte gehalten wird. In der Selbstverteidigung kennen wir solche Positionen auch. Allerdings gibt es weitaus mehr Möglichkeiten einen Gegner festzulegen, wenn sich dieser in der Bauchlage befindet. Weiterhin gibt es auch Festlegetechniken bei denen sich der Gegner in sitzender Position befindet.
Generell gilt für solche Festlegetechniken, dass es dem Angreifer unmöglich gemacht werden muss den Verteidiger in irgendeiner Form anzugreifen.
Nur wenige Judo-Haltetechniken, oder deren Varianten, erfüllen diese Voraussetzung.
Die Hebeltechniken
Die Hebeltechniken des Judo sind sehr effektiv. Richtig eingesetzt, kann man mit ihnen einen Gegner in seiner Kampffähigkeit entscheidend einschränken. Allerdings wird der Gegner nicht aufgeben, nur weil ihm durch diese Technik Schmerzen zugefügt werden. Als Verteidiger muss man bereit sein diese Technik bis zur Zerstörung des Gelenkes durchzuführen.
Die Beschränkung auf die Ellbogengelenke, so wie im Wettkampfjudo, gibt es in der Selbstverteidigung nicht. Es können grundsätzlich alle Gelenke, auch in Kombination, gehebelt werden. Die verschiedensten Hebeltechniken sind auch Bestandteil vieler Festlegetechniken. Hierbei werden zumeist die Extremitäten des Gegners in eine für ihn ungünstige Position gebracht, so dass er kaum, oder gar keine Kraft aufbringen kann um sich aus dieser Lage zu befreien.
Die Würgetechniken
Auch die Würgetechniken des Judo sind in der Selbstverteidigung ein Element, welches einige Möglichkeiten zur Kampfentscheidung bietet. Es sind aber nicht alle Techniken gleichermaßen geeignet. Viele dieser Techniken bedürfen einer stabilen Jacke, welche der Gegner trägt, weil mit Hilfe des Kragens die Halsschlagadern zugedrückt werden. Trägt der Gegner nun eine solche Jacke, kann man diese Techniken natürlich anwenden. Besser geeignet sind aber jene Würgetechniken, welche ohne Hilfsmittel auskommen. Ich denke dabei an Hadaka-jime, Ushiro-jime oder auch Sankaku-jime.
Auch hier gilt es sicherzustellen, dass der Gegner nicht in Lage ist den würgenden Verteidiger erneut anzugreifen.
Da der Gegner nicht freiwillig aufgeben wird, muss der Verteidiger entschlossen sein ihn bis zur Besinnungslosigkeit zu Würgen.
Abschließend kann man sagen, dass Judo kein umfassendes Selbstverteidigungssystem ist, sollte es aber auch nie sein.
Gleichwohl sind die Techniken des Judo Bestandteil der Selbstverteidigung, allerdings in deregulierter Form.
Und hier schließt sich der Kreis, das Judo kehrt zurück zum Ju-Jutsu.