Verbeugen oder Verneigen ?
(von Susanne A. Lichtschlag)

Man hört es nahezu in jedem Dojo: „Verbeugen! Kämpft!“
Aber ist „BEUGEN“ wirklich das richtige Wort?

Im Lexikon wird es u.a. umschrieben mit:
– sich unterordnen, seinen Willen dem eines anderen unterordnen
– sich klein machen, krumm machen
– sich dem Schicksal beugen
– sich der Gewalt beugen.

Wer sich verbeugt, kann sein Gegenüber für diesen Moment nicht sehen.
Kommt das Wort „VERNEIGEN“ dem eigentlichen Sinn dieses Grußes nicht viel näher?
Ich verneige mich vor meinem Meister, um ihm zu danken, dass er mich unterrichtet.
Ich verneige mich vor meinen Schülern, um ihnen zu danken, dass ich sie unterrichten darf.

Ich verneige mich vor meinem Übungspartner, um ihm zu danken, dass er mit mir übt, und, um mich im Voraus für eventuelle Verletzungen, die ich ihm ungewollt zufüge, zu entschuldigen.

Ich verneige mich beim Betreten des Dojo vor dem Geist, der in der Übungsstätte, der Stätte der Konzentration, herrscht, und zum Ausdruck meiner Achtung gegenüber den Anwesenden.

Gleichzeitig verdränge ich den Alltag, um den Kopf (sprich Geist) frei zu machen, um die Atmosphäre und das zu Erlernende ohne störende Gedanken an andere Dinge in mich aufnehmen zu können.

Wer beim Üben ständig an andere Dinge denkt, wird nicht aufmerksam genug sein können. Erst wenn der Kopf ganz frei ist, kann man die Materie sowohl in der Praxis als auch in der Theorie in sich aufnehmen.

Zieht man all diese Dinge in Betracht, so ist der Moment des Grußes doch schon ein mit tieferem Sinn behafteter. Ist sodann das Wort „Verneigen“ nicht die ehrenvollere Bezeichnung?

In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, über Demut zu sprechen. Demut ist auch eine Form des Beugens, jedoch positiv und negativ besetzt.

In positivem Sinne mit „Bereitschaft zum Dienen, Bescheidenheit, Anspruchslosigkeit, ohne Geltungsdrang, etc“, im negativen Sinne mit „Unterwürfigkeit, Kriecherei, Fügsamkeit, Gefühl des eigenen Unwerts, etc.“

Die positive Demut halte ich für etwas sehr Ehrenhaftes, die negative Seite ist die, die ich dem Beugen gleichsetze und dem Verneigen gegenüberstelle.

In einer Budoweisheit heißt es: “Der Edle verneigt sich, aber er verbeugt sich nicht!“

Hans-Gert Niederstein, 10. Dan Jiu-Jitsu, 2. Dan Judo, (*28.05.1928 bis + 12.11.1985) hat zu diesem Thema 1977 geschrieben:

„Beuge Dein Haupt nie so tief, dass dir die Ehre aus der Tasche fällt. Es könnte sein, dass du dich nicht mehr im Spiegel sehen könntest. Lerne, das Neigen vom Beugen zu unterscheiden.“

Der Gruß drückt Haltung aus, innere und äußere. „Es sollte der Stolz jedes Schülers sein, seinem Lehrer mit dem erlernten Gruß die Ehre zu erweisen.“ (Zitat von H.-G. Niederstein).

Natürlich kann man sich nun fragen, ob es nicht egal ist, ob wir es „VERBEUGEN“ oder „VERNEIGEN“ nennen, wenn wir doch alle wissen (sollten), um was es dabei geht.

Ich benutze seit vielen Jahren die Begriffe „Verneigen“ oder „An- und Abgrüßen“. Niemand muss sich meiner Meinung anschließen, doch wenn meine Zeilen zum Nachdenken über dieses Thema angeregt haben sollten, hätten sie ihren Zweck bereits erfüllt.